Auf einem Auge blind: Filmkritik ohne Bilder

Als wär’s ein Gemälde von Goya oder Lucian Freud: In „Paradies: Liebe“ sind Bezüge zur bildenden Kunst nicht zu übersehen. Es sei denn, die Filmkritik hat anderes im Blick. | Foto © Neue Visionen

Filmkritik ist wichtig, meint die MFG Filmförderung Baden-Württemberg. Weil sie im Idealfall Orientierung bietet und zu verstehen hilft, was man da gerade gesehen (oder übersehen) hat, oder gar wie das alles im großen Ganzen des wirklichen Lebens einzuordnen sei. Da gehen die Meinungen bekanntlich manchmal auseinander. Filmkritiker folgen mitunter auch ihrem Geschmack, ihren Vorlieben und dem Urteil bekannterer Kollegen, so dass man sich schon mal 124 Minuten lang prächtig langweilen kann, weil man gerade dem falschen Hype aufgesessen ist. Andererseits: Wer mag sich schon allein auf die Werbetextchen verlassen, die immer mehr Illustrierte von den Mitteilungen der Verleihfirmen abtippen und das dann Kinotip nennen?

Also: „Die mediale Rezeption und journalistische Rezension von Filmen schafft jene Öffentlichkeit, die Voraussetzung dafür ist, die Filmtheater als Ort der Unterhaltung und der Kultur zu bewahren“, stellte die MFG fest, die gerade eine „Initiative zur Stärkung der deutschen Kinolandschaft“ startet – indem sie als „ersten Baustein“ einen Preis für Filmkritik schuf. Der wurde darum auch bedeutsam nach dem großen Filmtheoretiker Siegfried Kracauer benannt und am vorigen Samstag in Berlin verliehen.

Die Kritiker mag’s freuen – sie werden ja sonst oft genug ignoriert oder gar beschimpft, weil sie für das, was das Publikum sehen will, eh keinen Sinn hätten, meint mancher Filmemacher. Man erinnere sich an die aufgebrachten Diskussionen, als der Erfolgsproduzent Günter Rohrbach („Das Boot“) vor sechs Jahren im „Spiegel“ gegen diese „Autisten“ wetterte, „diese eitlen Selbstdarsteller, die über unseren Filmen ihre Pirouetten drehen“ und mit einem Satz die jahrelange Arbeit von Produzenten und Regisseuren, „so ihnen danach ist, in ein paar Stunden in den Boden stampfen.“

Der Filmjournalist Lars-Olav Beier rückte drei Wochen später an gleicher Stelle die Perspektive wieder zurecht: „Deutsche Filmemacher nehmen uns Kritiker oft viel wichtiger, als wir uns selbst nehmen.“ Kein Millionenerfolg sei durch schlechte Kritiken verhindert worden – „doch ich bin sogar froh, dass ich weit weniger Einfluss auf den Erfolg der Werke habe, die ich bespreche, als meine Kollegen von der Theater- oder Literaturkritik. Das gibt mir Freiheit und Unabhängigkeit.“

Soviel Gelassenheit teilt aber nicht jeder, wie zum einen die Diskussionen zeigten, zum anderen der Umstand, wie oft in jüngster Zeit die Kritikerzunft sich selbst in aller Öffentlichkeit über Sinn und Zweck ihres Treibens befragteauch anlässlich der Preisverleihung. Eine kleine Sehnsucht scheint die deutschen Filmkritiker wohl doch zu beseelen, etwas ernster genommen zu werden. Ihre Kollegen aus der Literaturbesprechung machen Quoten im Fernsehen, ein „cinastisches Quartett“ (wie das etwa der spanische Regisseur José Luis Garci in seinem Land jahrelang zur besten Sendezeit vollführen durfte) ist nicht in Sicht. Vielleicht ist Deutschland einfach kein Filmland.

Ob ausgerechnet ein Preis die fehlende Anerkennung wecken kann? Es schadet jedenfalls nicht, dass es ihn gibt – und gleich in zwei Kategorien. Zum einen als Stipendium für ein Vorhaben im kommenden Jahr: Mit monatlich 1.000 Euro ausgestattet, soll sich da ein Publizist hochwertiger Kritikerarbeit widmen können; als erster (aus 13 Bewerbern) Nino Klingler, der im kommenden Jahr neben seinen Rezensionen zwei kritische Essays zur Zukunft des Kinos schreiben will.

Zum anderen für die „Beste Filmkritik des Jahres 2013“, mit 3.000 Euro dotiert. Die Jury, die aus der Direktorin des Frankfurter Filmmuseums Claudia Dillmann, der Vision Kino-Geschäftsführerin Sarah Duve und dem Filmjournalisten Dominik Kamalzadeh bestand, traf ihre Wahl aus anonymisierten Texten. Und kam auf Cristina Nords Besprechung in der Tageszeitung vom 3. Januar 2013 über Ulrich Seidls Film „Paradies: Liebe“: Präzise tariere sie die Argumente aus, erklärte die Jury ihre Entscheidung, „um auf diese Weise der Wirkung und den Dynamiken eines Films näher zu kommen als mit einer unverrückbaren Position. Ohne die ästhetischen Qualitäten des Films kleinzureden, weist sie in ihrer Kritik mit Beharrlichkeit auf ungelöste Fragen in der Grundkonzeption der Arbeit hin.“

Das lobt die Kritikerin, ist insgesamt aber das Übliche, was gute Kritiken leisten. Wenn aber eigens ein Preis geschaffen wird, der erklärtermaßen als erster Baustein die Kinolandschaft stärken soll, darf man mehr erwarten als das Übliche. Einen neuen Blick aufs Kino, der eine neue Perspektive einnimmt. Die Masse der Filmkritiken aber scheint sich an der Schwesterdisziplin im Literaturressort zu orientieren, und es entsteht der Eindruck, als hätten alle Filmkritiker Geschichte oder Literaturwissenschaften studiert: Da dreht sich alles um Geschichte, Figuren, Botschaft … die eigentlichen Filmdisziplinen finden aber kaum statt. Kein Wunder also, wenn von den Filmgewerken (neben den allgegenwärtigen Schauspielern) bestenfalls noch Regie und Drehbuch Beachtung finden. Dabei sollte auch das Aufgabe der Kritik sein: zu erklären, auf welche Art und unter welchen Umständen und durch welche Leistungen ein Werk entsteht.

Würden Kunsthistoriker andere Kritiken schreiben? Jedenfalls erschöpfen sich Ausstellungskataloge nicht in der Beschreibung dessen, was da warum zu sehen und wie zu verstehen ist, sondern drehen sich regelmäßig auch um Bildgestaltung und Technik, Materialien und Arbeitsumstände. Dem Film, der zwischen diesen beiden Disziplinen erzählender und darstellender Kunst steht, fehlt diese Hälfte.

Auch dem preisgekrönten Beitrag, der in seiner Hälfte tatsächlich hervorragend ist, und wenigstens zaghafte Blicke aufs Bild wirft. Die ganze Kritik dreht sich um die Trennung zweier Lebenswelten, die auf mehreren Ebenen besteht. Dass dieses Thema auch visuell wiedergegeben wird; darauf geht nur diese Passage ein:

„In der spektakulären ersten Sequenz des Films steht sie vor der exotischen Dekoration eines Autoskooters, auf der Piste vergnügen sich ihre Schützlinge, Menschen mit Downsyndrom; die Kamera schaut von der Haube der Autoskooter in selige Gesichter.

Wenige Szenen später reist Teresa nach Kenia, an die Stelle der exotischen Kulisse im Autoskooter tritt also ein echter Palmenstrand, säuberlich aufgeteilt in einen Bereich, der zum Hotel gehört, und einen, den die Beach Boys besiedeln. Eine Kordel trennt die beiden Sphären; die Kameramänner Edward Lachmann und Wolfgang Thaler bringen diese Aufteilung mehrmals in sorgfältig komponierten Totalen zum Vorschein.“

Womit Nord wenigstens die Bildgestalter beim Namen nennt. Bei vielen ihrer Kollegen hätte wohl nur dieser Satz gestanden, der beim Leser den Eindruck erwecken könnte, der Regisseur habe mal wieder alles alleine gemacht: „Wenn Seidl einen Beach Boy anheuert und ihn mit halber Erektion filmt, verhält er sich dann nicht ähnlich wie die Freierinnen?“ Nun sei zwar Seidl tatsächlich sehr aktiv, wenn es um die Bildgestaltung geht, sagt Edward Lachman, aber auch darauf hätte man ja hinweisen können.

Leider keine Ausnahme in der deutschen Filmkritik, sondern die Regel, wenn überhaupt eine Bemerkung ans Bild verschwendet wird. Zu Alfonso Cuaróns neulich gestartetem Weltraum-Kammerspiel „Gravity“ etwa finden sich reihenweise Kritiken, die sich für die Bilder begeistern ohne den DoP Emmanuel Lubezki zu erwähnen. Weder die bekannten Kritiker der Feuilletons der großen Tageszeitungen, noch die klickstarken Kino-Plattformen. Wer ihn beim Namen nennt, sind allenfalls Blogger und Österreicher.

Dabei wurde doch gerade Nords Artikel in der Tageszeitung bildgewaltig präsentiert; aufgemacht mit einer Komposition aus dem Film, die so unterschrieben ist: „Als sei sie Goyas schöne Nackte: Margarete Tiesel als Teresa in ,Paradies: Liebe‘“. Doch dann kommt das Bild wieder zu kurz. Aus 951 Wörter besteht der Artikel. Gerade mal 23 Wörtern gehen auf die Arbeit der beiden Kameramänner ein – nur zwei weniger bekommt der Regisseur als Bildgestalter.

Der ausgezeichnete Beitrag könnte wenigstens ein Anfang sein. Doch bis die Filmkritik sich tatsächlich und eigentlich mit dem Film auseinandersetzt, ist der Weg noch weit.

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