Cinema Moralia – Folge 77: Die Vernichtung des Filmerbes droht

La grande bellezza: Großer Abräumer beim Europäischen Filmpreis

Warum Sabotage und Verrat die Tugenden unseres Zeit­al­ters sind; wie die Bundes­re­pu­blik Schind­luder mit Kino-Meis­ter­werken treibt; und was passiert eigent­lich, wenn jemand ein Attentat auf die Bundes­kan­z­lerin verübt? – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kino­ge­hers, 77. Folge

Genies setzen sich immer durch, hieß es letzte Woche in der Süddeut­schen. Wobei gerade das Feuilleton der SZ ja oft wie der Gegen­be­weis zu dieser These wirkt. Aber um so mehr muss man einen wirklich nach­ge­rade genialen Text loben, der ebenfalls vorige Woche in der SZ zu lesen war. Unser Lieb­lings­kri­tiker Fritz Göttler schrieb dort ganz offen darüber, dass er noch niemals in New York war. Vor allem outete er sich, dass er gar nicht dahin will, weil er die Stadt längst kennt – aus dem Kino natürlich. Und dort sieht sie besser aus als in natura. Darum hat man keine Lust hinzu­fahren. »Die Wirk­lich­keit der Stadt liegt darin, dass sie Projek­ti­ons­fläche bleibt«, schreibt Göttler, »den einzig­ar­tigen Eindruck des Fremden und des Heimi­schen möchte ich nicht der Zers­tö­rung durch die Wirk­lich­keit aussetzen.«

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Wer SPD-Mitglied ist und noch nicht abge­stimmt hat, den kann man nur auffor­dern, es schleu­nigst zu tun – bis morgen Abend muss die Stimme bei der SPD sein. Stimmen sollte man m.E. unbedingt mit Nein. Dies nicht allein aus staats­po­li­ti­schen Gründen, nicht nur, weil diese größte Koalition aller Zeiten, die jetzt droht, als Ausdruck gewordene Alter­na­tiv­lo­sig­keit bereits als solche der poli­ti­schen Kultur schadet. Die staats­po­li­ti­sche Verant­wor­tung fordert von der SPD gerade, eine Konstel­la­tion abzu­lehnen, bei der die Republik von einer Elefan­ten­ko­ali­tion aus über 80 Prozent der Bundes­tags­ab­ge­ord­neten regiert wird – denn gerade in Krisenz­eiten braucht das Land eine starke Oppo­si­tion. Und warum sollte man das Monopol auf eine linke Oppo­si­tion um Gregor Gysi über­lassen?

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Gerade in Fragen von Bildungs- und Kultur­po­litik droht von der GroKo Ungemach. Denn der Koali­ti­ons­ver­trag bedeutet Politik auf Kosten der Zukunft und der zukünf­tigen Gene­ra­tionen, und ist das Dokument einer No-future-Haltung: Hier konnte sich die SPD mit keiner einzigen ihrer zentralen bildungs­po­li­ti­schen Forde­rungen durch­setzen. Zwar sind laut Vertrag angeblich Bildung, Wissen­schaft und Forschung »Kern­an­liegen« der Koalition. Aber es gibt kein Ganz­tags­schul­pro­gramm, die Bafög-Erhöhung fällt ersatzlos weg, ebenso die verläss­liche Verbes­se­rung der Finan­zie­rung der Hoch­schulen, die die SPD gefordert hatte, darin im Gleich­klang mit dem Wissen­schaftsrat, der eine Stei­ge­rungs­rate in Höhe des Infla­ti­ons­aus­gleichs plus 1 Prozent für dringend erfor­der­lich. Alles bleibt unkonkret. Das Gerede von der »Bildungs­re­pu­blik« bleibt hohle Rhetorik.

Die Vorrats­da­ten­spei­che­rung soll fest­ge­schrieben werden. Die Netz­neu­tra­lität ist nicht gesichert. Im Urhe­ber­recht wird die dringend nötige fair-use-Regelung, die Baga­tellen straffrei stellt, noch nicht mal erwähnt. Einmal mehr zeigt sich leider, dass die SPD mehr­heit­lich schon immer ein proble­ma­ti­sches Verhältnis zur Freiheit hatte.

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Kultur ist in Deutsch­land zwar Länder­sache, aber immer wieder gibt es Fälle, wo sich Bund und Ländern zusam­mentun, weil das ganze Land gefordert ist. Solch eine gemein­same Anstren­gung ist jetzt im Kino nötig. Das fordert eine Petition, die seit einigen Tagen durch die deutsche Filmszene geistert und nun im Netz unterz­eichnet werden kann.

»Unser Film-Erbe ist in Gefahr!« warnt jetzt eine ganze Reihe von renom­mierten Film­wis­sen­schaft­lern, Archi­varen und anderen Experten, die sich damit an die neu entste­hende Bundes­re­gie­rung wendet und dringend zum Handeln auffor­dert.

Die inzwi­schen über 1500 Unterz­eichner machen in der Reso­lu­tion, die sie als Denk­an­stoß verstehen, auch sehr konkrete Vorschläge zur Rettung alter Film­klas­siker. Natürlich geht es um Geld und um die Ausstat­tung, auch die orga­ni­sa­to­ri­schen Grund­lagen der Archive – die allesamt viel schlechter ausge­stattet sind, als Biblio­theken oder Kunst­mu­seen. Aber wo genau liegt eigent­lich das Problem?

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Metro­polis – Fritz Langs Film­klas­siker aus dem Jahr 1927 ist so etwas wie die »Mona Lisa« des Kinos, nicht nur des deutschen. Im Gegensatz zur »Joconde« galt aber lange ein großer Teil des Filmor­gi­nals als verschollen: Erst vor wenigen Jahren tauchten die meisten der fehlenden Teile wieder auf – nicht etwa in Deutsch­land sondern in Buenos Aires, wo in der dortigen
Cine­ma­thek eine Kopie erhalten war.

So konnte Metro­polis restau­riert werden – einer­seits eine sehr gute Nachricht, ande­rer­seits aber eine schlechte, weil die Gelder mehr als knapp sind, und vielen Archiven selbst das Notwen­digste fehlt. Das Bundes­ar­chiv etwa kann noch nicht einmal seine laufenden Kosten decken, und zur Zeit kann das Archiv selbst eine seiner ureigenen Aufgaben – Film­wis­sen­schaft­lern Kopien für die Forschung zur Verfügung zu stellen – nicht erfüllen, weil die zustän­dige Archi­varin im Mutter­schutz ist.

Daran zeigt sich, was nicht nur Einge­weihte wissen: Film ist nach wie vor ein Stiefkind der Kultur­po­litik.

Während Bund und Länder fast mit Links 500 Millionen Euro dafür locker machen, dass das zerstörte Berliner Stadt­schloss als völlig künst­li­ches neues Gebäude wieder­auf­er­stehen darf, lässt die Bundes­re­pu­blik ihr Kinoerbe verrotten.

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Die Verfasser der oben erwähnten Petition weisen auf die desaströse finan­zi­elle Ausstat­tung der Archive hin, und auf die schänd­liche Miss­ach­tung dieser wert­vollen, oft uner­set­z­li­chen Bestände durch die Kultur­po­litik in Bund und Ländern. Filme zerfallen, weil Film aus chemi­schen Material besteht, das erhalten und erneuert werden muss.

Die vom Bund getragene Murnau-Stiftung kennt ihre eigenen Bestände nicht – weil das Geld fehlt, diese Bestände überhaupt nur zu erkunden. Ihrem Auftrag zufolge ist die Murnau-Stiftung für das komplette deutsche Filmerbe bis 1945 zuständig. Ihre finan­zi­elle Ausstat­tung ist aber geringer als der Etat eines Klein­stadt­mu­seums.

Eine Schande für ein Land, in dem das Kino mit erfunden wurde.

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Man weiß derzeit noch nicht einmal, ob in den Archiven der Murnau-Stiftung womöglich drei komplette, gut erhaltene Film-Kopien von Metro­polis lagern, weil die Stiftung keinen Etat hat, um die nicht ganz billig zu habenden Experten in ihre Archive zu schicken. Und billige Hilfs­kräften will man das nicht über­lassen, zu heikel ist die Aufgabe – und zu gefähr­lich. Denn alte Filme bestehen aus Nitro-Material, sind also hoch­brennbar – und da gibt es im Land der Verord­nungen natürlich eine nicht unbe­rech­tigte, mehr­sei­tige Dienst­an­wei­sung, wie mit dem brenn­baren und giftige Gase entwi­ckelnden, wert­vollen Film­ma­te­rial umge­gangen werden soll.

Im Zeitalter der so Walter Benjamin, »tech­ni­schen Repro­du­zier­bar­keit des Kunst­werks« ist ausge­rechnet die tech­ni­sche Filmkunst davon bedroht, dass der größte Teil der Originale zerfällt und damit eben nicht mehr repro­du­ziert werden kann. Das Filmerbe stirbt.

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Was tun? Die Unterz­eichner der Petition fordern eine Zusam­men­ar­beit von Bund und Ländern und aller Archive. Sie verglei­chen die Lage mit unserem Nachbarn: Frank­reich stellt für die Digi­ta­li­sie­rung und Umko­pie­rung seines Filmerbes in sechs Jahren 400 Millionen Euro bereit. In Deutsch­land gibt es im gleichen Zeitraum nur 12 Millionen. Einen ersten Erfolg können die Unterz­eichner schon verbuchen. Im Koali­ti­ons­ver­trag ist erstmals überhaupt und erstaun­lich konkret von der »Erhaltung des filmi­schen Kultur­gutes« die Rede. Dies sei eine gesamt­staat­lich-nationale Aufgabe.

Der Kampf um diese Aufgabe und für das deutschen Filmerbe hat aber erst begonnen. Noch droht der Zerfall.

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Man kann die Petition unter folgender Link-Adresse unterz­eichnen:
www.change.org/de/Peti­tionen/unser-filmerbe-ist-in-gefahr

Zusammen mit vielen Kollegen und Verbänden, darunter dem Verband der deutschen Film­kritik möchte ich hiermit alle Leser auffor­dern, zu unterz­eichnen.

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Wie schlecht, wie sauschlecht das deutsche Fernsehen doch ist! Schon in Fragen des »gesunden Menschen­ver­standes«. Man muss sich nur einmal die Website der ARD angucken. Es ist schwer, dort überhaupt das aktuelle Fern­seh­pro­gramm zu finden. Aber wozu geht man sonst auf die Website eines Fern­seh­ka­nals?

Wenn das alles das Einzige wäre. Manchmal ist man ja noch als Jour­na­list unterwegs. Die ARD war trotzdem nicht in der Lage, ihren eigenen Doku­men­tar­film über Willy Brandt recht­zeitig zur Bespre­chung zuzu­schi­cken. Und bei der offi­zi­ellen Vorstel­lung des Films im Haupt­stadt­studio der ARD waren nur ARD-Funk­ti­onäre und Brandt-Veteranen zugegen, die aktiven Jour­na­listen konnte man an zwei Händen abzählen. Ich hatte nur die letzte halbe Stunde des Films gesehen, weil ich zufällig im Haus war.

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Die letzte Bastion der DDR ist der RBB. Bei dieser soge­nannten Rund­funk­an­stalt kamen alle DDR-Fern­seh­jour­na­listen unter, die nicht so arg politisch belastet waren, dass es offen peinlich wurde. Dafür wickelte man nach der soge­nannten »Wende« den RIAS und den SFB ab, zwei Bastionen des freien Westens – einer dieser vielen Kuhhandel, die die Bundes­re­pu­blik inzwi­schen teilweise in eine gesamt­deut­sche Ostzone verwan­deln. Von Merkel und Gauck rede ich jetzt nicht, sondern von einem einfachen Anruf am vergan­genen Freitag.

Dort wollte ich ein Studio buchen, was ich gele­gent­lich tue, wenn ich im Auftrag eines Radio­sen­ders einen Beitrag produ­zieren will. Man bucht dann das Haupt­stadt­studio, weil es logis­tisch am güns­tigsten liegt, zentral in Berlin-Mitte. Wenn das voll ist, was vorkommen kann, fragt man beim Deutsch­land­funk. Erst wenn das auch besetzt ist, kommt der RBB dran. Denn der Sender in der ganz im Westen gelegenen Masu­ren­allee im Expres­sio­nis­musbau der Zwanziger Jahre, der von Goebbels in »Haus des deutschen Rundfunks« umgetauft wurde, hat bei freien Autoren einen sehr schlechten Ruf – warum, erlebte ich an diesem Freitag. Alle drei Tele­fon­num­mern der »Dispo«, wo allein man Studios buchen kann, waren um 12.30 Uhr unbesetzt – jeweils sprang ein Anruf­be­ant­worter an.

Vierter Anruf bei der Zentrale. Der gute Mann dort weiß von nichts, als ich es ihm klarmache, vermit­telt er mich in die Chefetage zur Sekre­tärin der Programm­di­rek­tion. Die ist auch etwas über­rascht, meint, da wisse »unten offenbar einer nicht Bescheid« und stellt mich wieder zu einer der Dispo­num­mern durch – wo das Tonband anspringt. Zum zweiten Mal bei der Zentrale. ich bitte darum, mit dem Schalt­raum verbunden zu werden. Zehn Minuten in der Warte­schleife, dann wieder in der Zentrale. Er hat offenbar mit dem Schalt­raum geredet, dort könne man mir nicht helfen, nein durch­stellen könne er mich nicht. Inzwi­schen bin ich unfreund­li­cher, und nur der Ton hilft mir dahin, dass ich in irgend­einer Stelle lande, wo immerhin ein Mensch statt eine Maschine am anderen Ende der Leitung sitzt. Die Frau ist nett, kann aber auch nicht helfen, obwohl sie angeblich zehn Minuten »im Haus« herum­ge­laufen ist, und Kollegen suchte. Sie nennt mir einen »Herrn Günther, der hat heute Dienst«. Sie gibt mir sogar seine Mobil­nummer, denn unter dem Dienst­te­lefon ging auch bei ihr nur der Anruf­be­ant­worter an. Muss ich erwähnen, dass ich Herrn Günther auch an seinem Mobil­te­lefon nicht erreicht habe?

Am Ende hatte ich Glück, weil im Haupt­stadt­studio ein Kollege ausfiel.

Aber der wich­ti­gere Eindruck: Eine Geschichte wie von Kafka – im RBB sind Plan­wirt­schaft und Tota­li­ta­rismus noch am Leben. Und wes Geistes Kind die Entscheider dort sind, demons­triert die Endlos­te­le­fon­war­te­schleife: Hallo Bran­den­burg! Hallo Berlin! Will­kommen. Wir berichten, was in Ihrem Kiez so passiert, wir blicken hinter die Kulissen und erzählen ihre Geschichte.

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Was passiert eigent­lich, wenn ein Attentat auf die Bundes­kan­z­lerin verübt wurde und jemand ein Studio zur Bericht­er­stat­tung braucht? Am Frei­tag­mittag sollte das besser nicht passieren – sonst bekommen das der ARD-Hörer erst am Montag­morgen mit.

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Europa, das wissen wir alle, ist mehr als der Euro, mehr als der Friede nach vielen Kriegen, ist auch mehr als die Europäi­sche Union und das Rauch­verbot. Es ist das Geflecht von Geschichten, die wir uns immer wieder erzählen. Don Quixote, Don Juan, Hamlet, Grimms Märchen…

Aber heute ist Europa vor allem Krise. Welche Rolle spielt da das Kino und der Europäi­sche Filmpreis, der am Samstag zum 26. Mal verliehen wurde? Könnte viel­leicht die Kino-Kultur Europa retten? Der Europäi­sche Filmpreis, den manche sogar den europäi­schen Oscar nennen, ist jeden­falls eine tolle Idee – zumindest in der Theorie. In der Praxis leider weniger. Er ist nicht besonders bekannt, geschweige denn populär, er hat keine große Wertig­keit – noch nicht einmal bei den Filme­ma­chern selber.

Keiner demons­trierte das besser, als der Italiener Paolo Sorren­tino. Er gewann zwar am Samstag vier Preise, war aber persön­lich nicht nicht mal da, und zeigte so, wie egal ihm diese Ausz­eich­nung durch die Kollegen ist.

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Damit bestä­tigte er nicht nur, dass der Europäi­sche Filmpreis eben noch lange kein Oscar ist, er bestä­tigte auch gleich all die Einwände der vielen Kritiker seines Films, die La grande bellezza derb und vulgär, und eines Kunst­preises überhaupt unwürdig befanden.

Überhaupt tat die zum Gähnen lang­wei­lige Veran­stal­tung, die einmal mehr von der uner­träg­li­chen Anke Engelke moderiert wurde, und die Preise, die die Mitglieder der Europäi­schen Film­aka­demie per Massen­ab­stim­mung an sich selbst vergeben, in diesem Jahr alles dafür, dass es nicht besser wurde.

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Das Kino von Gestern oder eher noch Vorges­tern hat gewonnen – Opas Kino, dass der Auto­ren­film einst abschaffen wollte, das aber über das Hinter­tür­chen des Popu­lismus und der nur an wirt­schaft­li­chem Erfolg inter­es­sierten Film­för­derer nun umgekehrt gerade den europäi­schen Auto­ren­film abschafft.

Das Kino von morgen gewann allen­falls Neben­preise, wie der spanische Film Blan­ca­nieves, Pablo Bergers Schnee­witt­chen­ver­sion im Tore­ro­mi­lieu, der gerade im deutschen Kino läuft, und mit einem Kostüm­preis abge­speist wurde. Oder wie Oh Boy von Jan Ole Gerster, der die Ausz­eich­nung als bester Debütfilm erhielt – der einzige deutsche Beitrag im Rennen. Oder die gewagte dreis­tün­dige Comi­c­ver­fil­mung Blau ist eine warme Farbe des fran­zö­si­schen Regis­seurs Abdel­latif Kechiche, der nächste Woche ins Kino kommt. In Kechiches Filmen wimmelt es nur so von Anspie­lungen auf das europäi­sche Kultur­erbe, auf Voltaire, Marivaux und Sartre – aber die Akade­misten beein­druckte das wenig – und am Samstag ging der Film leer aus.

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Das was das europäi­sche Kino wirklich ausmacht, der Auto­ren­film, der nicht notwendig immerzu lustig, aber immer intel­li­gent ist – der wurde nur durch die Alten reprä­sen­tiert: Der über 80-jährige Ennio Morricone, die 70-jährige Catherine Deneuve und der Spanier Pedro Almodovar – sie sind es, die Europas Kino groß machen.

Was man aber an Sorren­tinos Abwe­sen­heit ebenso merkte wie daran, dass weder Deneuve noch Almodovar noch irgendein anderer Stargast für Inter­views zur Verfügung standen – sondern nur für kleine Pres­se­kon­fe­renzen, die manche Teil­nehmer und Medien dann als »Exklusiv-Interview« verkaufen – das ist die fehlende Iden­ti­fi­ka­tion der Film­ge­meinde mit diesem Preis und der europäi­schen Kino­iden­tität, für die er stehen will. Es fehlt das Enga­ge­ment der Filme­ma­cher, die zur Zeit eher die Europäi­sche Film­aka­demie brüs­kieren.

Der europäi­sche Film kann offenbar nicht besser sein als der Gesamt­zu­stand von Europa: Wir sind zerrissen, unsicher, ängstlich, gewiss nicht im Aufbruch oder gar beim Durch­bruch zu neuen Ufern. Die Künste spiegeln das, aber zur Zeit fehlt ihnen das Potential zur Verän­de­rung.

Aber es stimmt auch, dass ange­sichts des Ausein­an­der­drif­tens der europäi­schen Länder nicht der Film die Politik braucht, sondern die Politik den Film und überhaupt die Kultur, um ein Zusam­men­gehö­rig­keits­ge­fühl zu schaffen.

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Auch »nicht hilfreich« (Angela Merkel) für den Wert des Preises ist die Tatsache, dass Arte, in der Wahr­neh­mung des Publikums der europäi­sche Kultur­kanal Nummer eins, seine Über­tra­gung weiter reduziert hat. Live sendet man aus Straßburg schon lange nicht mehr, diesmal aber noch nicht mal wie bislang datums­ver­setzt zur Primetime, sondern erst um 23.10 Uhr in einer, sagen wir mal: gewöh­nungs­be­dürf­tigen Kurzform.

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Alles in allem verlieren gerade Unter­s­tützer des Prinzips »öffent­lich-recht­li­ches Fernsehen« gerade den Glauben an die Idee des Öffent­lich-Recht­li­chen. Alles, wofür diese Sender gegründet wurden, wird von ihnen preis­ge­geben. Nicht von den meist guten Redak­tionen, sondern von den Karrie­risten, die ihnen auf Direk­to­ren­posten vorsitzen. Da ist nichts refor­mierbar. Neulich meinte ein Redakteur, natürlich nicht zitierbar: Diese Leute wären nicht da wo sie sind, wenn sie nicht so wären, wie sie sind.

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Das stimmt und das bedeutet: Wir brauchen dringend Unter­neh­mungen von unten und von der Seite, die die Idee des Öffent­lich-Recht­li­chen auf ihre Urspünge und ihren Kern zurück­führen. Das Internet bietet hierzu alle Chancen. Es kann Medium der Aufklä­rung sein, wenn wir es aktiv zu einem solchen machen.

Es bedeutet auch: Die jetzt tonan­ge­benden Leute in den Fern­seh­sen­dern müssen weg. Und sie werden nur verschwinden, wenn wir alle gegen sie revol­tieren. Die Filme­ma­cher und Redak­teure unterhalb der Chefebene durch gezielte Sabotage und durch konse­quentes Durch­ste­chen (Verraten) aller Geschichten, die Gebüh­ren­zahler durch Boykott.

Sabotage und Verrat sind die Tugenden unseres Zeit­al­ters.

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind auf artechock in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurzkri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.

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