Der Fall Weinstein: Gedanken zur deutschen Filmbranche

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Die Filmwelt entsetzt sich über Harvey Weinstein. Doch die deutsche Branche schweigt. Dabei sieht’s hierzulande auch nicht besser aus. | Foto © Columbia Tristar

Die Filmwelt entsetzt sich über Harvey Weinstein. Doch die deutsche Branche schweigt. Dabei sieht’s hierzulande auch nicht besser aus. | Foto © Columbia Tristar

Nicht wundern: Der folgende Beitrag erschien bereits am Donnerstag, weil hatten ihn aber gleich wieder aus dem Netz genommen, weil die Ereignisse uns überholt hatten. Ungeachtet der neuen Stellungnahmen und Artikel war der Text „Der Fall Weinstein: Gedanken zur deutschen Filmbranche“ von Belinde Ruth Stieve der erste, der im Kontext des Harvey-Weinstein-Skandals die Situation in der deutschen Filmbranche thematisierte. Er erschien am 16. Oktober auf ihrem Blog, wir drucken ihn heute gekürzt noch einmal ab.

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Es ist zwei Wochen her, seit einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, dass der US-amerikanische Filmproduzent Harvey Weinstein seit Jahrzehnten junge Schauspielerinnen und Models aber auch Firmenangestellte und Journalistinnen eingeschüchtert, sexuell belästigt und angegriffen hat. Es ist klar, dass Angeklagte bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten haben. Allerdings scheinen in diesem Fall die Vorwürfe  erdrückend – im Gegensatz zu den leider nur allzu häufigen Situationen, in denen Aussage gegen Aussage steht und eine Straftat oder ein Verbrechen nicht bewiesen werden kann.

Viel wurde zunächst darüber geschrieben, wie es möglich sein konnte, dass Harvey Weinstein über Jahrzehnte unerkannt und ungestört handeln konnte, doch schnell wurde klar, dass seine Übergriffe, sein Umgang mit insbesondere jungen Schauspielerinnen zu Beginn ihrer Karriere, ein offenes Geheimnis waren. Im Zuge der Reportagen wurde auch auf andere Fälle von sexuellen Übergriffen hingewiesen, von US-Schauspieler Bill Cosby über Fox News-Moderator Bill O’Reilly und Chef der Amazon-Videoabteilung Roy Price bis hin zu US-Präsident Donald Trump. Alles in den USA, weit weg.

Auch in Deutschland werden Schauspielerinnen und andere weibliche Filmschaffende sexuell belästigt und bedrängt. Auch hier gab und gibt es Männer, die ihre Machtposition (zum Beispiel als Regisseur) ausnutzen, die Schauspielerinnen zu sexuellen Handlungen im Tausch für eine Rolle – ja was denn: Zwingen? Auffordern? Nötigen? Männer, die diese Hierarchie, in der Schauspielerinnen ganz weit unten stehen (zu wenige Rollenangebote und gleichzeitig zu viele von uns) ausnutzen. Die mal eben mit der Darstellerin im Nebenzimmer verschwinden, um Sex zu haben. Wohlgemerkt, das sind keine sich anbahnenden Romanzen, wo sich Regisseur und Darstellerin ineinander verliebt haben oder auch bloß scharf aufeinander waren. Sondern „das gehört dazu, ich Boss, Du …“

Es kursieren Namen, die ich in diesem Zusammenhang öfter gehört habe, von unterschiedlichen Quellen. Ich weiß von einer sehr jungen Schauspielerin, die ein Vergewaltigungsopfer spielen sollte, halbnackt; die Dreharbeiten dauerten endlos, und Kollegen und Mitglieder des Teams machten „anzügliche“ Witze über sie, über ihren Körper, über ihre Lage.

Ich weiß von einer Kollegin, die immer wieder von männlichen Kollegen „inszeniert“ wird, die einfach besser wissen als sie und die Regie, wie sie ihre Rolle spielen sollte, und die sich ungefragt einbringen. Wenn sie etwas sagt, gilt sie als „schwierig“ und „unkollegial“.

Betroffen sind nicht nur Schauspielerinnen. Ich habe auch von Maskenbildnerinnen und von Regisseurinnen gehört, um nur zwei Berufsgruppen zu nennen. Eine befreundete Karriere-Coach/Trainerin, die regelmäßig mit Frauen und Männern aus der Filmbranche arbeitet, berichtet: Jedes Mal, wenn sie das Thema Netzwerken thematisiere, folge unweigerlich die Frage: „Wie gehe ich mit Übergrifflichkeiten um?“ Und wenn eine Frau erst einmal diese Frage gestellt hat, kommen weitere: „Und was ist, wenn er im Gespräch immer wieder seinen Arm um mich legt?“ „Und was ist, wenn ich Nein sage, den Arm abschüttele – kann ich das Projekt dann gleich ganz vergessen?“ Jedes Mal. Die meisten Frauen berichten von solchen Situationen. Die Männer im Coaching sind dann meist sprachlos bis genervt. Genervt, dass so ein Thema so viel Raum einnimmt, denn es betrifft sie nicht, und sie sind überrascht, dass es überhaupt aufkommt: „Nie davon gehört.“

Im Januar 2017 wurde die Studie „Die Situation der Filmschaffenden 2015“ veröffentlicht, für die rund 2.400 vollständig ausgefüllte Fragebögen mit einem Frauenanteil von 39 Prozent ausgewertet wurden. Jörg Langer, der Verfasser der Studie, erzählte mir von  mehr als 300 berichteten Diskrimierungsvorfällen, darunter zahlreichen Schilderungen von sexuellen sowie verbalen Übergriffen.

Die Studie ergab außerdem, dass deutlich weniger Frauen als Männer mit ihren Arbeits- und Lebensbedingungen zufrieden waren, dass Frauen deutlich seltener Tarifgagen erhalten als Männer, und dass Frauen dreimal so häufig wie Männer von „Diskriminierungen aufgrund Alter, Herkunft, Geschlecht, Religion“ und anderem mehr berichteten.

Regisseurinnen haben an anderer Stelle mehrfach von ihrem Dilemma berichtet: Wenn sie resolut am Set agieren, werden sie als hysterisch abqualifiziert oder „die hat ihre Tage“. Wohingegen das gleiche Verhalten ihrer männlichen Kollegen als entschlossen galt. Liegt das auch an den Verhältnissen, nämlich dass ein Großteil des Teams vielleicht noch nie mit einer Regisseurin gearbeitet hat, eine Kamerafrau oder Tonmeisterin zum ersten Mal sieht? Und die in der Arbeit auch vor der Kamera immer weniger Frauen sehen, quasi als untergeordnet (auch darüber habe ich wiederholt gebloggt)?

Im übrigen geht es weiter – beziehungsweise fängt schon vorher an: Auf dem langen Weg, bevor die Regisseurin überhaupt ihrem Team Anweisungen geben kann, und sie um ein Projekt kämpft oder bettelt, sich bewirbt. In Gesprächen mit Produzenten und anderen.

Ich weiß nicht, wie oft das passiert, aber es sind keine Einzelfälle. Es ist strukturell, so wie der Sexismus in der Filmbranche strukturell ist, so wie die Benachteiligung von Frauen, auch beim Gehalt, in der deutschen Arbeitswelt strukturell ist und wie sexuelle Belästigungen von Frauen am Arbeitsplatz in unserer Gesellschaft ein strukturelles Phänomen sind.

Ich erinnere ein Kaffeetrinken mit einem Regisseur, in dem er nebenbei vorschlug, ich solle „seine Geliebte“ werden. Das ist sehr lange her, ich stand am Beginn meiner beruflichen Laufbahn, es ging um eines von mehreren Projekten. Ich war baff, und ich wiegelte es freundlich ab, die Stimmung war einigermaßen gerettet. Aber aus keinem der Projekte ist etwas geworden.

Da war dieser Workshop, in dem wir Schauspielerinnen Tipps bekamen, wie wir uns und unser Material (Fotos und Demoband) besser präsentieren könnten und wie der Umgang mit Regie und Casting idealerweise ablaufen sollte, aus Sicht des Regisseurs, der an dem Tag dran war. Ich erinnere, wie das Thema Nacktszenen angesprochen wurde und er recht abfällig über Schauspielerinnen sprach, die in ihren Verträgen auf eine „Keine-Nacktszenen“-Klausel bestünden. Denn das würde seine Arbeit als Regisseur enorm beeinträchtigen. Die Schauspielerinnen sollten lernen, über den eigenen Schatten zu springen, Nacktszenen wären für sie ja sogar eine Bereicherung, das hätte ihm einmal eine Schauspielerin gesagt, die erst sehr unwillig gewesen sei. Denn natürlich betraf das Thema Nacktszenen nur uns Schauspielerinnen, nicht die wenigen Schauspieler im Workshop. Und natürlich fügte der Regisseur noch hinzu, dass eine Weigerung, Nacktszenen zu drehen, bedeuten würde, dass dann eben die Rolle mit einer Kollegin besetzt würde, die nicht diese Probleme hätte.

Ob es überhaupt so oft Nacktszenen geben muss, ob der Mord an einer Frau in einem deutschen Krimi nur gezeigt werden kann, wenn sie nackt zu sehen ist (wenn nicht bei der Tat selbst, wo sie meist zumindest halbnackt abgelichtet wird, dann spätestens hinterher auf dem Seziertisch der Gerichtsmedizin) – wird diese Frage jemals gestellt? Oder die Frage der Kameraperspektive, also dass sexualisierte Gewalt gerne auch – Schuss, Gegenschuss – aus Sicht des Täters gefilmt wird (siehe auch Die Dramaturgie der Dusche)?

Ich stelle mir erfahrene Filmteams vor, die regelmäßig halbnackte Schauspielerinnen am Set erleben. Ist das der Grund, warum sich manche so unsensibel verhalten? Zum Beispiel manche Tonleute beim Verkabeln von Schauspielerinnen? Bloß weiß wir Schauspielerinnen sind und uns vor der Kamera zeigen und mitunter unser Innerstes entblößen, heißt das nicht, dass wir keine Privatsphäre mögen, Verlegenheit oder Scham nicht kennen, Fremden gegenüber nie nervös sind.

Nach 30 Jahren vermeintlichem Schweigen wird in der US-Filmbranche nun laut über die Vorwürfe gegen Harvey Weinstein gesprochen und den Frauen, die mit Vorwürfen an die Öffentlichkeit treten, grundsätzlich Glauben geschenkt. Der US-amerikanische und der britische Castingverband haben sich zu Wort gemeldet, der britische Schauspielverband Equity UK veröffentliche eine „Erklärung zu Mobbing und Belästigung“. Interessensgruppen wie Women in Film and Television UK, ERA 50:50 Equal Representation for Actresses, Raising Films und einzelne Schauspielerinnen sind an die Öffentlichkeit getreten.

Bemerkenswert auch die Stellungnahme von Schauspielkollegin, Drehbuchautorin und Regisseurin Kate Hardie, die im „Guardian“ kommentierte: „Zeit, endlich die Verbindung zwischen Missbrauch und Filminhalten herzustellen“.

Betroffenen Frauen, die öffentlich über Weinsteins Übergriffe gesprochen haben, berichteten, wie traumatisiert sie waren, viele suchten die Schuld bei sich, einige waren jahrelang beeinträchtigt, manche haben sogar ihren Beruf gewechselt. Manche hatten Glück mit einem verständnisvollen näheren Umfeld, andere weniger. Das alles macht klar, dass es um mehr als um Rechtsberatung und Wir-glauben-Dir geht.

Deshalb an dieser Stelle der Hinweis auf den Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland, in dem 170 Beratungsstellen und Notrufe zusammengeschlossen sind. Über die BFF-Website können Beratungsstelle in Eurer Nähe gefunden werden. Die Beratung kann auch anonym stattfinden. Die Mitarbeiterinnen sind erfahren, und beraten wird auch anonym.

Und bei uns? Warum schweigen die Verbände? Es gibt bislang keine Stellungnahmen vom Verband der Filmschaffenden, vom Regie- oder Castingverband, von der Produzentenallianz, von der Verdi Film-Union, um nur einige zu nennen. Und vor allem: Kein Wort vom Schauspielverband BFFS, im Gegenteil. Sie wollen kein Statement abgeben und haben auf Mediennachfrage gesagt, ihnen seien keine derartigen Fälle bekannt.

Aktualisierung am 23. Oktober 2017: Erfreulicherweise hat der Schauspielverband BFFS auf das Drängen der Mitglieder reagiert und am 20. Oktober doch eine Stellungnahme abgegeben unter dem Titel „Was ändert sich nach Harvey Weinstein?“. Das ist wichtig! Einige meiner Anregungen wurden aufgenommen, unter anderem auch das anonyme Meldesystem (leider bislang mit dem etwas unglücklichen Titel „Unter der Gürtellinie“). Heute hat auch der Regieverband Stellung genommen und will eine „verbandsunabhängigen Ombudsstelle“ schaffen, an die sich Betroffene wenden können.

Ich möchte anregen, dass sich unsere Filmbranche damit beschäftigt, wie ein angst- und übergriffsfreies Arbeitsumfeld auch für Frauen geschaffen werden kann. Damit Übergriffe derjenigen in Machtpositionen geächtet und noch besser: verhindert werden können.

Vielleicht kann eine Art anonymes Meldesystem installiert werden, um übergriffiges Verhalten festzuhalten. Nicht als Pranger oder Denuzierungsplattform – es gibt Möglichkeiten, solchen Missbrauch zu verhindern. Zu klären ist, wo und wie so etwas eingerichtet werden kann und wer es betreut. Die Branche könnte konkret befragt werden, vielleicht aufbauend auf der genannten Studie des Filmschaffenden-Verbands.

Nachbemerkung: Seit der Veröffentlichung meines Originaltextes bin ich von vielen Filmfrauen angesprochen und angeschrieben worden, die von eigenen negativen Erlebnissen berichten. Diese ziehen sich durch alle Gewerke. Und das macht klar, dass es kein Schauspielerinnen-Problem ist und wir ein Meldesystem für die gesamte Branche brauchen.

Ich wünsche mir, dass wir als eine Ursache von sexueller Belästigung und Gewalt, von Nötigung und Einschüchterung, die prekäre Situation vieler Filmschaffender, insbesondere von Frauen, und Machtmissbrauch sehen. Dass die Verbände sich für eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an der Filmarbeit einsetzen. Ich wünsche mir, dass unsere Filme mehr emanzipatorische Geschichten erzählen und Frauen und Männer nicht mehr in überholten Stereotypen darstellen. Filme prägen unser Denken und beeinflussen unsere Emotionen. Auch deshalb ist es so wichtig, in der Filmbranche den Hebel anzusetzen.

Noch neugierig? Eine laufend aktualisierte Auswahl lesenswerter Artikel auch zur deutschen Filmbranche finden Sie hier.

 

 

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